MARK TWAIN
REISEBRIEFE VON MARK TWAIN
Auszug aus den Reisebriefen vonMark Twain von 1891 bis 1892
" ...Dann, nach einer Stunde, kommen Sie in Annecy an und rattern
lautstark durch die alten, verwinkelten Gassen, überall komische alte Häuser,
wie ein Traum aus dem Mittelalter, und schließlich kommen Sie zum Hauptobjekt
der Reise- dem See von Annecy. Es ist eine Offenbarung, es ist ein Wunder. Er ist derartig bezaubernd,
dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Er berührt einen auf dieselbe
Weise wie alle Dinge, die sofort als perfekt erkannt werden: perfekte Musik,
perfekte Eloquenz, perfekte Kunst, perfekte Freude, perfekte
Trauer. Er erstreckt sich in die Ferne, von der Sonne liebkost, zu seinen von
majestätischen Bergen umrahmten Ufern, eine glitzernde und strahlende Ebene von
Wasser im göttlichsten Blau, das man sich vorstellen kann. Hier findet man alle Blautöne, von der schwächsten bläulichen Andeutung von
Wasser, die nur im Schatten eines überhängenden Objekts wahrgenommen werden
kann, über die ganze Palette, ein wenig Blau und noch ein wenig blauer und
nochmals einen Ton blauer, bis daraus letztlich eine tiefe, südländische
Pracht wird, die einem das Herz im Busen bricht, weil sie so schön ist.
Und die Berge, an denen Sie mit dem Dampfschiff entlang
gleiten, wie stattlich sind ihre Formen, wie edel ihre Proportionen, wie grün
ihre samtenen Hänge, wie sanft spielen Licht und Schatten über den krönenden
Felsmauern, wie opalgrün sind die immensen Höhen von Schnee, die sich in weiter
Ferne vom Himmel abheben - der Mont Blanc und die anderen – wie kann man das
beschreiben? Nicht einmal ein Maler würde es fertig bringen, und die Feder kann
es höchstens andeuten.
Im oberen Teil des Sees ist eine alte Abtei, Talloires, ein Relikt aus
dem Mittelalter. Dort hielten wir an und traten aus dem
sprudelnden Wasser und der Eile, dem Widerhall, dem Ärger und dem Fieber des
19. Jahrhunderts in die Feierlichkeit und Stille und die sanfte Schwermut und
das brütende Geheimnis eines lange verflossenen Altertums.Auf der Steinstufe am Ufer befanden sich die Spuren einer
verblichenen Inschrift, die breite Steintreppe, die bis zur Eingangstür führte,
war von den Füßen längst vergessener Jahrhunderte blank poliert und es gab
keinen Stein, der nicht zerbrochen gewesen wäre. Im
Herzen dieses Steinhaufens befand sich ein altes, quadratisches Kloster mit
überdachtem Kreuzgang, wo die Mönche dem alten Brauch nach
saßen, um zu meditieren und von Zeit zu Zeit einem wandernden Ritter in seinen
zinnenen Reithosen Obdach zu bieten, und in der Mitte des zum Himmel geöffneten
Platzes befand sich ein Brunnen, dessen steinerne Umrandung durch Alter und Benutzung rissig und rau geworden war, inmitten von
Unkraut, in dem Wurfgeschosse verschimmelten, mit denen sich die Kreuzfahrer
einst bewarfen. Ein Durchgang auf der anderen Seite des Klosters führte zu
einer anderen, mit Unkraut bewachsenen und dachlosen Einfriedung, wo
sich eine verfallene, mit Massen von Efeu überwucherte Mauer an einen
ramponierten, pittoresken Torbogen lehnte. Im ganzen Gebäude gab es komfortable
Zimmer und komfortable Betten, saubere Dielenböden ohne Teppiche. In einem der oberen Zimmer hing ein halbes Dutzend Portraits, dumpfe
Reliquien vergangener Jahrhunderte, Portraits von Äbten, die in alten Tagen so
mächtig wie Fürsten und sehr reich waren, besonders verehrt wurden und sehr
heilig waren. Im nächsten Zimmer befanden sich eine heulende
Chromolithografie und eine elektrische Klingel.Unten stand eine antike Holzskulptur mit einem
lateinischen Wort, das Stille befahl und das neue Klavier stand daneben. Zwei
ältere Französinnen, mit den nettesten, aufrichtigsten und ehrlichsten Gesichtern haben nun die Abtei und sie beköstigen und
beherbergen Leute, die dem Lärm der Städte müde sind und dort sein möchten, wo
die Totenstille und Ruhe und Frieden dieses alten Nests den aufgewühlten Geist
heilt und den abgerissenen Kopf zusammenflickt. Sie haben uns gut
genährt, sie haben uns gut schlafen lassen, und ich wünschte, ich hätte dort
ein paar Jahre bleiben können, um mich vollständig zu erholen."